Schutzumschlag von Seeamt Lübeck: Der Untergang des Segelschulschiffs »Pamir«

Der Untergang des Segelschulschiffs »Pamir«
von Seeamt Lübeck

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um einen Nachdruck der „Entscheidungen des Bundesoberseeamtes und der Seeämter der Bundesrepublik Deutschland“ Band 5, Heft 1-5 von 1958. In ihm findet sich der Spruch des Seeamtes Lübeck zum Untergang der Pamir am 21. September 1957, die Begründung und ein Teil der dem Spruch zugrunde liegenden Gutachten. Die öffentlichen Seeamtsverhandlungen fanden nach intensiven Untersuchungen am 6. - 10., 14. und 20. Januar 1958 im Bürgerschaftssaal im Lübecker Rathaus unter Leitung des Vorsitzenden, Amtsgerichtsrat Eckart Luhmann, statt.

Am Anfang des Buches steht der Spruch des Seeamtes, gefolgt von den Namen der auf See gebliebenen Pamir-Besatzungsmitglieder, unter ihnen der Seeschriftsteller (Al-)Fred Schmidt. Der Spruch des Seeamtes lautet zusammengefaßt: Die nicht angepaßte Segelführung führte bei plötzlicher Zunahme des Windes zu einer starken Krängung des Schiffs, dadurch wurde der Böschungswinkel der geladenen Gerste überschritten und die Ladung ging über. Infolge des nicht ausreichenden Verschlußzustandes drang Wasser in die Aufbauten ein und verschlechterte die Stabilitätsverhältnisse entscheidend. Diese Faktoren waren ursächlich für das Kentern und Sinken des Frachtseglers, bauliche Mängel waren nicht vorhanden, Rigg und Segel, stehendes und laufendes Gut in hervorragender Verfassung. Der gesteuerte Kurs widersprach nicht den Regeln der meteorologischen Navigation. Die Ausrüstung mit Rettungsmitteln war vorschriftsmäßig. Das Seeamt sieht die Möglichkeit, „daß die mangelnde Vertrautheit des Kapitäns Johannes Diebitsch mit den besonderen Segel- und Stabilitätseigenschaften der Pamir und die nur begrenzte Segelschiffserfahrung des 1. Offiziers ungünstige Auswirkungen gehabt haben.“

Die Darstellung des Tatbestands nimmt den überwiegenden Raum des Buches ein. Er enthält die für das Seeamt maßgeblichen Gutachten zur Stabilität der Viermastbark und zu den meteorologischen Bedingungen. Beide Gutachten zusammen mit dem beigegebenen Bildmaterial sind sehr ausführlich und klar in der Darlegung. Das der Natur nach eher komplizierte Stabilitätsgutachten ist auch für den interessierten Laien mit dem Middendorf in der Hand ohne weiteres nachzuvollziehen. Ebenso enthält der Hauptteil die Rekonstruktion der Reise und die Würdigung der Aussagen der Überlebenden. Abgeschlossen werden diese Seiten durch die Stellungnahme des Bundesbeauftragten, Kapitän zur See a.D. Wesemann.

Leider nicht enthalten sind die vollständigen Aussagen der vor dem Seeamt gehörten Kapitäne frachttragender Segelschiffe. Unter ihnen befanden sich Hermann Piening, der Kapitän auf den P-Linern Padua und Peking war, Hans Richard Wendt, Kapitän des P-Liners Padua, Walter von Zatorski, Kapitän der Schulschiffe Bremen und Deutschland und Dietrich Ballehr, Kapitän der Viermastbarken Herzogin Sophie Charlotte und Herzogin Cecilie, beides Schulschiffe des Norddeutschen Lloyd. Als Zeugen waren natürlich auch Herrmann Eggers, etatmäßiger Kapitän der Pamir, und Helmut Grubbe, Kapitän des Schwesterschiffes Passat, an den Verhandlungen beteiligt. Die Einlassungen der Kapitäne werden durch das Seeamt lediglich in Bruchstücken an einigen Stellen bei der Ermittlung des Tatbestandes eingeflochten. Das ist um so bedauerlicher, als der ebenso anwesende Kapitän Otto Lehmberg im März 1937 einen ähnlichen Seenotfall als Kapitän des Schulschiffes des Norddeutschen Lloyd Kommodore Johnson (heute Sedov) zu überstehen hatte. Die Viermastbark war gleichfalls von Buenos Aires kommend mit einer Ladung Weizen, teilweise gesackt, teilweise als Schüttgut, auf der Heimreise, als sie nördlich der Untergangsstelle der Pamir in einen heftigen Orkan geriet. Auch hier ging die Ladung bei starker Krängung über, auch hier war der Verschlußzustand unzureichend. Dank der Hilfe herbeigerufener Schiffe und dank intensiver Umtrimmarbeiten und Flutung von Tanks gelang es, der bedenklichen Situation glimpflich zu entkommen. Ob diese Erfahrungen bei der Beratung des Seeamtes eine Rolle gespielt hat, ist dem Buch leider nicht zu entnehmen.

Abgeschlossen wird die Veröffentlichung durch die sehr ausführliche Begründung des Spruchs. Dieser Buchabschnitt enthält nicht nur eine sehr umfangreiche und detaillierte Rechtfertigung für das Ergebnis des Seeamtes, sondern darüber hinaus Lehren, die aus dem Unfall zu ziehen sind. Die Ratschläge des Seeamtes betreffen drei Komplexe:

Besonders interessant ist die ausführliche Abhandlung des Seenotfalles des Schwesterschiffs Passat, der knapp zwei Monate nach dem Sinken der Pamir eintrat. Zwar war diese Notlage nicht durch einen Hurrikan, sondern nur durch einen Orkan verursacht, trotzdem dürfte die Windstärke in beiden Fällen nur unwesentlich verschieden gewesen sein. Der Seenotfall Passat hat nicht nur die nachträgliche Ermittlung der Unfallursache im Falle der Pamir erheblich erleichtert - bis auf die Frage der Vermeidung des Sturmes sind beide Fälle, insbesondere mit Bezug auf die Stabilitätsfragen, nahezu vollständig gleichartig -, er zeigt auch, daß die Kenterung der Pamir nicht zwangsläufig war, sondern objektiv hätte verhindert werden können.

Diese Feststellung bedeutet keine Schuldzuweisung an die Schiffsführung der Pamir. In Notsituationen bilden sich Handlungsdynamiken und Ereignisketten heraus, die nicht mehr bewußt steuerbar sind. Die Feststellung des Seeamtes bedeutet aber doch, daß mit etwas mehr Glück, welches auch aus dem letzten, kaum mehr faßbaren Erfahrungsvorsprung oder Persönlichkeitsunterschieden des nautischen Personals gespeist wird, daß mit diesem Glück der Seenotfall ein glimpfliches Ende hätte finden können. Wie das Seeamt formuliert: „… so daß ‚höhere Gewalt‘ in dem oben gedachten Sinne [wenn die Gewalt des Sturmes so übermächtig gewesen wäre, daß die Pamir ihn unter keinen Umständen hätte überstehen können, Anm. d. Verf.] nicht vorgelegen hat“ [Unterstreichung durch das Seeamt].

Die vom Seeamt festgestellten Maßnahmen und Verhältnissen, die den entscheidenden Unterschied zwischen dem glücklichen Ausgang im Falle der Passat und dem Verlust des Schiffes im Falle der Pamir ausgemacht haben, sollen hier kurz aufgezählt werden.

Angesichts dieser Unterschiede stellt sich natürlich die Frage, warum auf der Pamir nicht entschlossener auf die Notsituation reagiert wurde. Das Rätsel, seit wann die Schiffsführung der Pamir Kenntnis von dem Hurrikan hatte, konnte vom Seeamt nicht geklärt werden. Als möglich wurde sowohl eine längere Kenntnis von dem herannahenden Hurrikan (seit dem 19. September) angenommen als auch ein sehr spätes Wissen um die drohende Gefahr erst in den Morgenstunden des 21. Septembers. Man könnte die nicht oder zu spät eingeleiteten Maßnahmen auf der Pamir also ggf. mit der zunächst fehlenden Kenntnis über den nahenden Hurrikan erklären. Der dadurch bedingte Überraschungseffekt hätte sich dann negativ auf die zur Verfügung stehenden Zeit für etwaige Maßnahmen und gleichzeitig auf die Qualität der erfolgten Entscheidungen zur Rettung des Schiffs ausgewirkt. Die nicht regelmäßige Verfolgung des Wetterberichts, wenn sie denn tatsächlich vorgelegen haben sollte, müßte daher als ein ernstes Versäumnis gelten.

Kurs der Pamir und des Hurrikans Carrie (aus dem besprochenen Band)

Kurs der Pamir und des Hurrikans Carrie (aus dem besprochenen Band)

Aus der Darstellung der Situation an Bord entsteht der möglicherweise falsche Eindruck, daß zum Ende hin eine gewisse Passivität oder Resignation zumindest beim Kapitän einsetzte, die einen vielleicht hoffnungslosen, aber nichtsdestoweniger erforderlichen, bedingungslosen Kampf um das Schiff bis zum Schluß unterbleiben ließ. Statt dessen bezogen sich die Anweisungen des Kapitäns auf Zigaretten, Schnaps und Schwimmwesten. Hätte man z.B. bei Aussichtslosigkeit der Situation nicht kontrollierte Rettungsmaßnahmen für die Mannschaft einleiten können oder müssen? Es scheint die letzte Konsequenz des Schiffsführers im Augenblick der Gefahr gefehlt zu haben.

Hier schließt sich die Frage an, welche Anforderungen man an die Erfahrung der Schiffsführung stellen kann oder muß. Diese Frage wurde durch das Seeamt ausführlich diskutiert. Zunächst, es handelte sich bei der Schiffsführung der Pamir ohne Zweifel um erfahrene Seeleute. Insbesondere, wenn man Wissen und Erfahrung auf der Brücke der Pamir mit der heutigen Situation auf Großseglern vergleicht, und auch, wenn das Seeamt an diesem Punkt gewisse Defizite für möglich hält, so war die notwendige Qualität der Schiffsführung nach den praktischen, bei der Auswahl des nautischen Personals anzuwendenden Maßstäben gegeben. Kapitän und Offiziere sind Jahre auf Segelschiffen gefahren, was natürlich eine Steigerung der Erfahrung auch noch nach Jahren oder Jahrzehnten der aktiven Seefahrt nicht ausschließt. Erfahrung zeigt sich nicht in Einzelentscheidungen, die kann wahrscheinlich jeder Leichtmatrose objektiv richtig, d.h. aus der Situation heraus nicht anfechtbar, treffen, Erfahrung zeigt sich vielmehr in dem nicht faßbaren Zusammenspiel aller Entscheidungen und in dem feinen und nicht beschreibbaren Gespür dafür, was noch kommen wird. Bei dem an Erfahrung und Tüchtigkeit herausragenden Kapitän kommen dann, zumindest statistisch gesehen, seltener Unglücksfälle vor als bei dem weniger ausgezeichneten Kapitän, obwohl auch letzterer an jedem Punkt bezogen auf die aktuelle Situation korrekt entschieden hat. Eine Differenz in Fähigkeit und Erfahrung von Kapitänen wird es immer geben und liegt in der Natur der Sache, nicht alle Kapitäne können gleich gut sein, sofern man deren Qualität überhaupt auf einer linearen Skala messen kann. Insbesondere kann sie dem unglücklichen Kapitän, der sein Schiff verliert, nicht zum Vorwurf gemacht werden. Das Leben, und besonders die Seefahrt, bleibt eine auf die Zukunft hin offene Angelegenheit, bei der man nicht alle Risiken von vornherein ausschließen kann, auch wenn man das im Nachhinein gerne annehmen möchte.

Das Seeamt macht zwei mögliche Ursachen für das unentschlossene Verhalten und die nicht adäquaten Maßnahmen während der Zuspitzung der Situation aus:

In der Diskussion über die an die Schiffsführung zu stellenden Anforderungen wird mehrfach auf den Umstand hingewiesen, daß aufgrund des Niedergangs der Seefahrt mit Großseglern ausreichende Erfahrung im Umgang mit solchen Schiffen kaum noch zu erwerben ist und demzufolge auch eine Bemannung von Windjammern mit adäquater Schiffsführung und Besatzung immer schwieriger wird. Deshalb war die Frage zu beantworten, ob heute (in den ausgehenden 50iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts) der Betrieb von großen Rahseglern noch verantwortbar ist. Nach dem Urteil des Seeamtes läßt der spezielle Fall Pamir den Schluß, der Betrieb von Segelschulschiffen wäre nicht mehr zu verantworten, nicht zu. Soweit diese Frage jedoch die obligatorische Ausbildung auf Segelschulschiffen für den Nachwuchs der Handelsmarine betrifft, hat das Seeamt ausdrücklich seine Zuständigkeit verneint und diese Frage offen gelassen. Dagegen stelle der Bundesbeauftragte in seiner Stellungnahme fest: „Darum ist die Ausbildung und Heranziehung tüchtigen Nachwuchses in der harten Schule auf den Segelschiffen begonnen und betrieben worden. Die weitere Ausbildung unserer künftigen Kapitäne zu Männern, die ihren späteren Aufgaben gewachsen sind, ist ein Ziel, für dessen Erreichung sich … alle deutschen Reedereien einsetzen … sollten.“

Ob der Betrieb von Großseglern heute, 50 Jahre nach dem Untergang der Pamir, angesichts des noch viel größeren Mangels an wirklich in der Führung von Rahseglern erfahrenen Seeoffizieren zu verantworten ist, diese Frage drängt sich angesichts des Studiums der Seeamtsakten natürlich auf. Die Anforderungen an das nautische Personal von Großseglern, die das Seeamt in seinem Spruch nennt, werden vermutlich heute überwiegend nicht mehr erfüllbar sein. Trotzdem sollten die wenigen noch in Betrieb befindlichen Windjammer als Zeugen der Hochzeit der Segelschiffahrt wo immer möglich in Fahrt gehalten werden. Die modernen Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten werden die möglicherweise geringeren Erfahrungen beim Betrieb solcher Segler mehr als wett machen. Außerdem entfallen heute die Sachzwänge aus dem kommerziellen Betrieb der Segler, da Ladung nicht mehr transportiert werden muß. Und wer einmal auf dem Deck eines solchen großartigen Frachtseglers gestanden hat, wird ganz entschieden den Weiterbetrieb der wenigen verbliebenen Rahsegler wünschen.

Trotz der akribischen Beschäftigung des Seeamtes mit den letzten Stunden an Bord der Pamir bleiben beim unbefangenen Leser Fragen offen, die sicher nicht zu einer anderen Beurteilung des Falles führen würden, deren Beantwortung aber trotzdem interessant wäre. Mag man die lange an Bord herrschende Unbekümmertheit - so wird fast bis zum Ende vom Fotografieren und Filmen an Bord der Viermastbark berichtet - mit der Täuschung über den Ernst der Lage erklären, so fügt sich das Austeilen von Zigaretten und Alkohol nicht in das Bild. Auch die Möglichkeit, durch Kappen der Masten Stabilität zu gewinnen, wird zwar vom Seeamt kurz diskutiert, aber schnell verworfen. Dabei weiß man aus dem Buch von William F. Stark, daß Kapitän Björkfelt am 14. August 1949 etwas 1.500 sm weiter südlich, als die Pamir ebenfalls in einen Orkan geraten war und starke Schlagseite bekam, ernsthaft mit dem Gedanken gespielt hatte, die Masten zu kappen.

Der vorliegende Band ist eine ausgezeichnete Ergänzung zu dem aufwühlenden, aber trotzdem sehr sachlichen Buch des Überlebenden Otto Dummer über die Katastrophe. Muß letzteres sich verständlicherweise auf die Schilderung des Dramas und die Ergebnisse der nicht nur vom Seeamt geführten Diskussion über die Umstände des Schiffsverlustes beschränken, so haben in ersterem auch die technischen Details der Untersuchung eine ausführliche Darstellung erfahren.

Es ist schade, daß dieses Buch seit seiner Erstauflage 1973 keine Neuauflage erfahren hat. Der fünfzigste Jahrestag des Untergangs der Pamir im Jahre 2007 hätte ein natürlicher Anlaß für den Neudruck sein können, hätte das Dokument doch auch die zum Jahrestag wieder aufbrechende und nicht immer fundiert und sachgerecht geführte Diskussion über die Umstände des Untergangs auf solidere Füße stellen können. Und er hätte auch den vor allem in jüngerer Zeit wieder oft erhobenen Vorwurf entkräften können, das Seeamt hätte im Interesse bestimmter Kreise schiffbautechnische Mängel oder Versäumnisse beim Reedern des Schiffes vertuscht. Solche Verschwörungstheorien fallen angesichts der in dem Untersuchungsbericht zu Tage tretenden akribischen Ursachenforschung und der überaus sorgfältigen Argumentation des Seeamtes in sich zusammen. Einen kleinen Eindruck davon kann man schon aus dem Inhaltsverzeichnis entnehmen, das deshalb abschließend hier angefügt werden soll.

Buchdetails

Titel:
Der Untergang des Segelschulschiffs »Pamir«
Autor:
Seeamt Lübeck
Seiten:
327
Sprache:
Deutsch
Verlag:
Horst Hamecher, Kassel, 1973
ISBN:
978-3-920307-13-8